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Michael Gurschler - QUERTRIEBE - Im Zweifelsfall: rosa
Vernissage: 03. Feb, 2023
Finissage: 03. Mar, 2023

Quertriebe
Die in Serie entstandenen Ahnenportraits verstehen sich als queere Aneignung einer vorgefundenen familiären Erinnerungskultur. Es interessierten (und interessieren) mich Geschichten und Familiengerüchte über all jene Menschen, die hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung angeblich „aus der Reihe tanzten“, deren sexuelle Identität in den Erzählungen vage oder, aus der Sicht der Nachgeborenen, fragwürdig bleibt. Wenig überraschend ergab sich, dass es sich im konkreten Fall um vier Männer handelte, deren Geschichten mir (entlang meines sozialen Umfelds) wiederum von Männern erzählt wurden. Es geht mir allerdings nicht darum, diese Ahnen oder ihre Nachfahren im Ausstellungskontext als „schwul“ oder „queer“ zu outen. Vielmehr sollen diese Ahnenportraits als Ankerund Bezugspunkt nachgeborener Identitäten verstanden und thematisiert werden. Mein Interesse gilt dabei der Kritik der Unterdrückung queeren Lebens im immanent heteronormativen Machtapparat familiärer Überlieferungen, aber nicht ausschließlich.
Auch die Frageform dieser Kritik selbst ist mir wichtig: Was können wir über vergangene Leben von Menschen, die über ihre sexuelle Identität nicht sprechen konnten, wollten, durften oder/und mussten schon wissen? Was passiert, wenn wir im Zweifelsfall für ihre Homosexualität plädieren? Was, wenn der Spieß sich dreht, und Heterosexualität erst zu beweisen wäre? Was ist schließlich „queere Kunst“ und was „queere“ Ahn*innenforschung? Und was kann/soll/darf/muss sie leisten? Worin vesteht das Interesse an verbürgten und gedachten Genealogien?

 

Tagebuchmalereien
Daneben traue ich mich (endlich), Aquarelle zu zeigen, die zum Teil meinen (naiven) malerischen Anfängen (2017) und einer beinahe täglichen Praxis entstammen. In  diesen Bildern geht es häufig um ein paradoxes Gefühl der Abgeschlossenheit an transitorischen, eher flüchtig wahrgenommenen Orten. Mit der Zeit interessierten mich gerade jene Orte, die zufällig auf dem Weg lagen, die – obwohl (oder gerade weil) sie keine Postkartenmotive zeigen – über eine Stadt, eine Landschaft oder über  ich etwas mitzuteilen haben.
Als 2020 die Covid19-Krise das Leben in der Stadt eine Zeit lang stilllegte, entstanden den Tagebuch-Malereien anverwandte Aquarelle (und schließlich Siebdrucke),  die sich mit der pandemiebedingten Segregation im urbanen Raum auseinandersetzen. Im Diptychon 25 Tage Lockdown und Dritte Welle wendet sich eine bruchstückhaft zitierte Rückenfigur über eine Balkonbrüstung der Welt im Lockdown zu. Urheber der zersplitterten Form ist hierbei der pandemiebedingte Stillstand“, der den bildnerischen Bewegungsraum maßgeblich einschränkte, sowie die Modulation der digitalen Bearbeitung eines per Smartphone übermittelten Selfies. Die Gemälde wurden „auf Tagessicht“ gemalt. Das heißt: In gleichmäßige Streifen unterteilt, wurde eine digitale Bildvorlage während des künstlerischen Produktionsprozesses jeden Tag neu abgedeckt, sodass an jeweils einem Tag bloß ein schmaler Streifen der Vorlage sichtbar war. Die Aquarelle, die ich auf diese Weise („blind“ entlang des abgedeckten Bildstreifens) malte, beschränken sich auf Farb- und Formcluster in ihrer Isolation. Ein Zusammenhang würde erst zu einem späteren Zeitpunkt sichtbar werden. Auf diese Weise definiert sich die Form gleichsam von Prozessen der Fragmentierung sowie der Defragmentierung, die sowohl das „Schreiben“ und „Lesen“ des Diptychons als auch den von der Pandemie geprägten sozialen Alltag bestimmten.

 

VEROiCAN
Andachtsbildchen
Auf der persönlichen Suche nach dem „wahren“ Bild entstand 2019 meine Abschlussarbeit an der Universität für Angewandte Kunst. Der Titel verweist ironisch auf die seit der Spätantike virulente Suche nach der VERA ICON, auf den immanent autoritären Charakter von Ikonen als „Zwangsfiguren“ vor dem Herrn (n. T. W. Adorno / M. Horkheimer) und problematisiert das emanzipatorische Potential künstlerischen Schaffens vor dem Hintergrund einer diskursiv von Machtinteressen aufgeladenen Semiotik.
Kann eine Emanzipation vor diesen Zwangsfiguren auf bildnerischem Wege gelingen? Gelingt es, den Zeichen ein neues Signifikat zuzuordnen und einer alten symbolischen Ordnung zu entwinden?
Glaubensbeweis – Machtbeweis – Gewaltbeweis. Das Pink, das im Andachtsbildchen probeweise den himmlischen Goldgrund ersetzt, bildet in VEROiCAN den Grund eines frischen Rots, das sich in Fällen über das angebliche Beweisstück ergießt. Die Gewalt, auf die die Farbe indexikalisch verweist, sucht sich (global gesehen) leider noch immer ihre Opfer. Und die Mitte? Der Abdruck? Woran müssen / sollen / wollen / dürfen wir glauben?
VEROiCAN ist ein Einzelstück, für 2.200 Euro zu erwerben und ist nahezu vollständig aus recyclebaren Materialen hergestellt. Kann eine Emanzipation vor diesen Zwangsfiguren auf bildnerischem Wege gelingen? Gelingt es, den Zeichen ein neues Signifikat zuzuordnen und einer alten symbolischen Ordnung zu entwinden?

Impressionen der Ausstellung